Digitalen Stress minimieren: Was Arbeitgeber dafür tun können – und sollten
Um den digitalen Stress, der durch die (falsche) Verwendung von (zu vielen) digitalen Tools verursacht wird, zu minimieren, können vor allem Arbeitgeber sehr viel tun – wobei „viel“ wäre es gar nicht, was zu weniger digitalem Stress im Unternehmen führen würde. Was die Lösung des Problems ist, erklärt Technostress-Experte Prof. Dr. René Riedl.
In seinem neuen Buch „Digitaler Stress“ beschreibt der FH- und Universitäts-Professor René Riedl ein Phänomen, das er seit gut zehn Jahren erforscht: Warum fühlen wir uns von digitalen Tools, die uns das (Arbeits-)Leben erleichtern sollten, überfordert und gestresst? Die Hauptprobleme, so Riedl, liegen vor allem an zu viel und falscher Nutzung. Genau hier sollten Arbeitgeber, HR- und Führungskräfte ansetzen, so der Appell des Experten.
Wie Arbeitgeber den digitalen Stress verringern sollten #
Herr Riedl, zunächst einmal: Wie sind Sie dazu gekommen, ein Buch über digitalen Stress zu schreiben?
René Riedl: Ich bin Wirtschaftsinformatiker und in der Wirtschaftsinformatik befasst man sich typischerweise mit den organisationalen Konsequenzen des IT-Einsatzes. Klassische Fragestellungen in der Wirtschaftsinformatik sind: Was bringt es Unternehmen, wenn sie bestimmte digitale Systeme oder Systemtypen einsetzen? Ich befasse mich hingegen auch mit den Konsequenzen der digitalen Technologie für das Individuum. Da ist das Thema digitaler Stress natürlich vorprogrammiert, wobei ich mich auch mit anderen Themen wie zum Beispiel Vertrauen in digitale Technologie auseinandersetze. Seit zehn Jahren beforsche ich das Gebiet nun intensiv und da der digitale Stress mit all seinen Symptomen mittlerweile sehr verbreitet und auch für die meisten Menschen in ihrem Alltag spürbar geworden ist, habe ich meine Erkenntnisse in einem Buch zusammengefasst.
Wir haben drei Exemplare davon verlost und die Gewinnspielteilnehmer gefragt, was sie in der Verwendung digitaler Technologie am meisten stresst. Am häufigsten wurden „ständige Erreichbarkeit“ bzw. Angst vor den Konsequenzen, wenn man mal nicht erreichbar ist, sowie „Informationsüberflutung“ genannt. Die Menschen fühlen sich von E-Mails, Slack- und WhatsApp-Nachrichten geradezu bombardiert und wenn sie nicht schnell genug antworten, folgen Anrufe. Was können Unternehmen tun, um diese Art von digitalem Stress zu verringern?
René Riedl: Dazu muss man sich erst einmal etwas Wesentliches überlegen. Es gibt in Unternehmen Menschen, deren primäre Aufgabe es ist, andere bei ihren Tätigkeiten zu unterstützen. Das klassische Backoffice oder Sekretariat beispielsweise, ist als Service-Unit in erster Linie dafür da, Anfragen entgegenzunehmen und weniger dafür, ein paar Stunden lang ungestört und konzentriert zu arbeiten. Da missverstehen viele meine Botschaft im Buch. Meine Botschaft ist nicht: Jeder Mitarbeiter soll den ganzen Tag ungestört arbeiten können, nein.
„Nicht jeder Mitarbeiter soll den ganzen Tag ungestört arbeiten können.“
Jene Mitarbeiter, für die eine tiefergehende Bearbeitung nötig ist, ein Software-Entwickler, ein Planer, aber auch alle, die Konzepte, Budgets, Texte erstellen, kreativ arbeiten … Diesen Menschen muss es möglich sein, in den sogenannten Flow zu kommen – und das geht nur ohne Störung. Hier müssen Unternehmen ansetzen und Störungen sowie den daraus resultierenden digitalen Stress minimieren.
„Die Lösung ist relativ simpel: Kommunikationsregeln aufstellen!“
Die Lösung ist relativ simpel: Kommunikationsregeln aufstellen! Unser Problem ist, dass wir so viele Möglichkeiten haben: E-Mail, diverse Chat-Programme, Kollaborationsplattformen, Telefon … Dazu kommt, dass manche Menschen emotional instabil sind und sofortige Rückmeldung benötigen. Bekommen sie nicht sofort eine Antwort, denken sie sich, es stimmt vielleicht etwas nicht. Das verschärft das Problem. Kommunikationsregeln verbessern die Zusammenarbeit auch mit emotional instabilen, neurotischen Menschen. Man sollte aber nicht zu viele Regeln einführen, da auch das wieder zu Stress führen kann. Eingeschränkte Autonomie ist einer der größten Stressfaktoren im Arbeitsleben. Unternehmen sollten daher die wichtigsten Grundregeln für die interne Kommunikation festlegen und ihre Mitarbeiter dahingehend schulen.
Der richtige Umgang mit E-Mail: Kennen Sie alle Funktionen? #
Sie schreiben im Buch explizit davon, dass Unternehmen ihre Mitarbeiter im richtigen Umgang mit E-Mails schulen sollten. Das klingt auf den ersten Blick sehr banal, ist es aber nicht, wie Sie beschreiben. Was sollten diese Schulungen beinhalten?
René Riedl: Wir haben Mini-Studien dazu durchgeführt und in Unternehmen das Stressempfinden der Mitarbeiter vor und nach E-Mail-Schulungen gemessen. Im Großen und Ganzen besteht das Problem nämlich darin, dass die meisten Mitarbeiter gar nicht alle Funktionen von E-Mail-Programmen kennen. Sie wissen gar nicht, welche tollen Features es gibt, die ihnen die Arbeit erleichtern. Das fängt beim Anlegen von Ordnern im Postfach an, um mehr Ordnung in die Inbox zu bekommen. Die meisten haben einfach einen riesigen Posteingang, in den ständig mehr E-Mails einlangen und in dem sie sich irgendwann nicht mehr zurechtfinden. Das überfordert natürlich.
„„Für viele Stress-Auslöser gibt es technologische Lösungen – die Anwender wissen aber nicht, dass es sie gibt.““
Da kommt mein Zugang als Wirtschaftsinformatiker ins Spiel: Ich behaupte ja nicht, dass digitale Technologien per se schlecht und stressverursachend sind, ganz im Gegenteil. Für viele Stress-Auslöser gibt es technologische Lösungen! Nur die Anwender wissen nicht, dass es sie gibt oder wie man sie verwendet. Und jetzt komme ich auf den Punkt: Zeigen Sie Ihren Mitarbeitern in einer Schulung die wichtigsten Funktionen Ihres E-Mail-Programms, gern auch mit einem externen IT-Experten! Am besten nehmen Sie 10 bis 15 Personen in die Schulung hinein, das geht auch online über Screensharing, und erklären das so, dass es jeder versteht und danach anwenden kann. Unsere Mini-Studien haben gezeigt, dass das Stressempfinden der Mitarbeiter nach solch einer Schulung deutlich sinkt.
„Zeigen Sie Ihren Mitarbeitern die wichtigsten Funktionen Ihres E-Mail-Programms!“
Die Programme richtig anwenden zu können, ist aber nicht das einzige Problem bei der E-Mail-Kommunikation, wie Sie in Ihrem Buch schreiben. Stichwort: „in CC setzen“ …
René Riedl: Ja, genau. Was E-Mail-Schulungen auch enthalten sollten, ist neben den wichtigsten Features auch eine Richtlinie, wann wer in CC gesetzt werden soll. Wir erhalten viel zu viele E-Mails, die uns in Wahrheit nicht betreffen. Das passiert, weil wir gern auf Nummer sicher gehen wollen: Lieber eine Mail zu viel schicken, bevor sich jemand beschwert, dass ihm Informationen vorenthalten wurden. Oder um bei Problemen sagen zu können: Da gabs vor fünf Wochen ein E-Mail, du hast das ja eh gewusst. Es muss also von Unternehmen klar definiert werden: Wann wird wer in CC gesetzt? Wie formulieren wir Betreffzeilen aussagekräftig? Und, um die Inhalte der E-Mail-Schulungen abzuschließen: Wann ist ein E-Mail der richtige Kanal?
„Wann ist ein E-Mail der richtige Kanal?“
Der richtige Kanal für welche Art der Kommunikation? #
Auch unsere Leser haben uns geschrieben, dass es großen Stress verursacht, wenn Themen, die besser besprochen werden müssten, via E-Mail kommuniziert werden. Wann reicht Ihrer Meinung nach eine Textnachricht, wann sollten wir telefonieren und wann sind Face-to-Face-Besprechungen besser?
René Riedl: Dazu kann man sich zwei Grundregeln merken: Wenn die Aufgabe oder der Sachverhalt, um die es geht, eher komplex sind, dann sollte ich ein reichhaltigeres Medium verwenden. Der Benchmark ist hier immer Face-to-Face, das ist die reichhaltigste Form von Kommunikation, die wir haben. Wir sind rein evolutionär auf Face-to-Face „programmiert“. Je näher ein Medium an ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht herankommt, umso reichhaltiger ist es.
„Wir sind rein evolutionär auf Face-to-Face ‚programmiert‘.“
Wenn der Sachverhalt jetzt wirklich sehr komplex, sehr schwierig ist, dann würde ich die persönliche Besprechung vorziehen, denn auch eine Videokonferenz kommt nicht daran heran. Man hat keinen echten Augenkontakt, sieht die Körpersprache nicht und damit entgehen uns ganz viele wesentliche Informationen, die für einen Gesprächsverlauf, für die Beziehungsebene und das Vertrauen wichtig sind. Videokonferenzen sind also bei weitem nicht dasselbe wie Face-to-Face-Gespräche. Bei komplexen Themen sind sie dennoch besser als ein E-Mail. Interessanterweise ist ein Telefonat aber in Bezug auf den Informationsgehalt gleich gut wie ein Videogespräch, das weiß man mittlerweile. Es gibt sogar belastbare Forschung darüber, dass Videokonferenzen für unser Gehirn anstrengender sind.
„Ein Telefonat bietet fast denselben Informationsgehalt wie ein Videogespräch.“
Der zweite Punkt ist die Emotionalität eines Themas. Wenn eine Information zum Beispiel zu einem Konflikt führen könnte, würde ich sie niemals über E-Mail übermitteln. Wenn Face-to-Face zum Beispiel aufgrund von Corona nicht möglich ist, dann würde ich zum Telefon greifen. Eine Videokonferenz wäre in diesem Fall nicht nötig.
„Videotelefonate machen Sinn, um sich kennenzulernen.“
Sinn machen Videotelefonate aus meiner Sicht dann, wenn man sich noch nie gesehen hat und sich zum Beispiel vor einer möglichen Zusammenarbeit kennenlernen möchte. Dann erfährt man schon einmal, wie die Person gegenüber aussieht und das fördert das Vertrauen.
Remote Bewerbungsgespräche sollte man dementsprechend eher über Video als über Telefon durchführen?
René Riedl: Ja, natürlich immer unter der Voraussetzung, dass es einigermaßen gut funktioniert, also die Verbindung stabil ist und die Bildqualität gut ist. Im Bewerbungsgespräch ist es außerdem für beide Seiten wichtig, einander einmal gesehen zu haben, also da würde ich auf jeden Fall zu Videokonferenz raten.
Unterbrechungen stören den Flow: nicht nur ein betriebswirtschaftliches Problem #
Sie haben vorhin den sogenannten „Flow“ angesprochen, der durch ständige Unterbrechungen gestört wird. Warum ist der – auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht – so wichtig?
René Riedl: Zu IT-basierten Unterbrechungen gibt es viele Fakten und eine beeindruckende Zahl stammt aus einer Studie aus Deutschland: Menschen im erwerbstätigen Alter unterbrechen sich im Durchschnitt 88 Mal pro Tag selbst durch ihr Smartphone.
„Wir unterbrechen uns im Schnitt alle elf Minuten selbst durch unsere Smartphones.“
Das bedeutet, wenn wir von 16 wachen Stunden pro Tag ausgehen, dass sich jeder von uns im Schnitt alle elf Minuten selbst unterbricht, indem man aufs Handy schaut oder irgendetwas damit tut. Da sind die vielen Slack-Notifications, E-Mails oder sonstigen Push-Nachrichten, die bei vielen ständig am Bildschirm aufpoppen, noch gar nicht dabei. Und auch Anrufe oder der Kollege, der schnell im Vorbeigehen eine Frage stellt, sind da noch nicht miteingerechnet. Das heißt, viele Menschen werden alle paar Minuten von irgendetwas unterbrochen, wenn sie Push-Notifications eingestellt, das E-Mail-Programm permanent nebenbei laufen oder das Handy in Griffweite haben. Wie soll man da vernünftig arbeiten?
„Arbeiten im Flow führt zu mehr Produktivität und mehr Zufriedenheit.“
Natürlich, da kommen wir wieder zum Beispiel vom Anfang zurück, wenn es meine Aufgabe ist, andere mit Infos zu versorgen, dann gehört es zu meinem Job dazu, dass ständig Nachrichten eingehen. Aber in anderen Jobs ist der Flow, also dieses konzentrierte Arbeiten, bei dem man alles andere ausblendet und voll und ganz bei der Sache ist, enorm wichtig. Man weiß aus diversen Studien, dass dieser Flow zu mehr Produktivität und auch mehr Zufriedenheit im Job führt. Das Problem ist, man braucht bis zu 15 Minuten, um in diesen Zustand zu kommen. Wenn man jetzt aber alle paar Minuten unterbrochen wird, erreicht man ihn nie.
„Ein Viertel aller Aufgaben, die unterbrochen werden, werden nicht wieder aufgenommen.“
Und auch das weiß man: Ein Viertel aller Aufgaben, die unterbrochen wurden, werden nicht wieder aufgenommen. Auf sie wird schlichtweg vergessen. Daran sieht man betriebswirtschaftliche Probleme ohne Ende: weniger Produktivität, Fehler, nicht erledigte Aufgaben … Und natürlich ist das auch für das Individuum problematisch. Unzufriedenheit ist nur ein Faktor. Unterbrechungen sind Stressoren, die zu höherem Butdruck, generellen Herz-Kreislauf-Problemen und kognitiver Ermüdung führen. Also aus meiner Erfahrung sind diese ständigen Unterbrechungen eine der größten Ursachen für digitalen Stress, gemeinsam mit der ständigen Erreichbarkeit und damit der schlechten Work-Life-Balance.
Vorsicht vor privaten Gruppenchats! #
Das sind auch Themen, die unsere Leser uns geschildert haben. Manche fühlen sich gezwungen, 8, 9 Stunden permanent vor dem Bildschirm zu sitzen, um ja keine Nachricht zu verpassen und sofort antworten zu können. Andere haben geschrieben, seit Arbeitgeber WhatsApp verwenden, haben sie das Gefühl, nur noch zu arbeiten. Was kann man dagegen tun?
René Riedl: Ja, da habe ich auch schon vieles gehört und aus juristischer Sicht ist auch gar nicht sicher, ob die Verwendung dieser Messenger-Apps überhaupt rechtens ist. Ich bin kein Jurist, aber ich bin schon der Meinung, dass sich Arbeitnehmervertretungen dagegen wehren müssen, wenn ein Arbeitgeber den Mitarbeitern vorschreibt, mit seinem privaten Handy einer WhatsApp-Gruppe beizutreten. Schließlich haben dann alle Gruppenmitglieder meine private Telefonnummer und das ist datenschutzrechtlich fragwürdig.
„Arbeitnehmervertretungen müssen sich dagegen wehren, das ist datenschutzrechtlich fragwürdig!“
Dazu kommt, dass solche Gruppen auch die Kommunikation nicht verbessern, ganz im Gegenteil, damit schafft man bloß einen weiteren Channel mit noch mehr Information. Aus Sicht von Gruppenleitern, Führungskräften, Chefs ist es natürlich bequem, Informationen über solche Gruppenchats an alle zu schicken. Warum? Weil sie selbst schon so gestresst sind, dass sie keine Zeit für ein vernünftiges E-Mail oder einen Anruf haben.
„Viele versuchen, ihren digitalen Stress mit noch mehr digitalen Tools zu verringern.“
Das ist ja das Paradoxe: Viele versuchen den digitalen Stress damit zu verringern, dass sie noch mehr digitale Tools verwenden. Die helfen zwar kurzfristig, mittel- bis langfristig schaffen viele Tools aber ein immer größeres Stresspotenzial. Also da kann ich nur sagen: Wehret den Anfängen! Auf so etwas sollte man sich gar nicht erst einlassen. Was auch hier hilft: Kommunikationsregeln! Wenn klar definiert ist, wann welche Information über welchen Kanal an wen geschickt wird und bis wann darauf reagiert werden soll, bedeutet das viel weniger Stress für alle Beteiligten.
Bildnachweis: shutterstock/fizkes, Prostock-studio, fizkes, Nicoleta Ionescu
Redaktion
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