Digitaler Stress steigt: die negativen Folgen von Homeoffice
Mehr digitaler Stress ist eine der negativen Folgen von dauerhauftem Homeoffice, wie Studien zeigen. Prof. Dr. René Riedl hat die wissenschaftlichen Erkenntnisse in der zweiten Auflage seines Buches in einem neuen Kapitel zusammengefasst.
Mehr digitaler Stress im Corona-Homeoffice #
Das vergangene Jahr war sicherlich kein gewöhnliches und schon alleine deshalb Gegenstand zahlreicher Forschungsprojekte. Das betont auch Prof. Riedl beim Gespräch über die Neuauflage seines Buches: „Zunächst einmal muss man festhalten, dass der insgesamt gefühlte Lebensstress im vergangenen Jahr angestiegen ist. Das belegen Studien. Insbesondere Menschen mit betreuungspflichtigen Kindern, vor allem Frauen, haben besonders gelitten. Nicht nur war die Situation neu und zumindest anfangs sehr beängstigend, auch einer der größten Stresspuffer, nämlich soziale Kontakte, waren im vergangenen Jahr stark eingeschränkt. Die virtuellen Treffen konnten das nicht ersetzen.“
Stressfaktor 1: Private und berufliche Grenzen verschwimmen #
Das Fehlen der gewohnten Sozialkontakte und Freizeitbeschäftigungen kompensierten viele im Homeoffice mit mehr Arbeit oder mit Arbeitszeiten, die nicht mehr den üblichen entsprachen. „Was den digitalen Stress angeht, so ist das Verschwimmen der beruflichen und privaten Grenzen ein wesentlicher Faktor. Das kennen bestimmt viele, dass es im Homeoffice keine Seltenheit ist, noch nach 18 oder 19 Uhr Videomeetings abzuhalten, während im Büro zu diesen Zeiten bestimmt keine Termine vereinbart würden.“ Was für die einen willkommene Flexibilität ist, hindert die anderen am Abschalten.
Stressfaktor 2: Computerbasierte Überwachung #
Ein weiteres Phänomen ist die computerbasierte Überwachung, erklärt Riedl: „Dazu gibt es noch keine bestätigten Zahlen, aber zumindest das Gefühl, dass manche Arbeitgeber ihre Mitarbeiter*innen zuhause überwachen, hat massiv zugenommen.“ Das wird auch durch Medienberichte über Features und Apps, die die Produktivität im Homeoffice messen, verstärkt. „Manche Features tracken, wer wann eingeloggt war, wie lang welche Videotools verwendet und wann welche E-Mails geschickt hat … Das bringt den Herstellern verständlicherweise viel Kritik ein und manches wurde bereits entschärft. Aber es gibt auch Apps, die in Videosessions alle 5 Minuten Fotos machen, um zu dokumentieren, wer dabei war. Das ist natürlich ein großer Eingriff in die Privatsphäre, wenn hier der Privatbereich fotografisch festgehalten wird. Nicht jeder hat ein eigenes Büro zuhause oder verwendetvirtuelle Hintergründe. Das stresst natürlich auch enorm.“
Stressfaktor 3: Fehlende IT-Sicherheit #
Auch über den dritten Stressfaktor im Homeoffice wurde bereits in den Medien berichtet: IT-Sicherheitslücken und dem damit verbundenen Anstieg an Hackerangriffen. „Viele haben im Homeoffice nicht dieIT-Infrastruktur der Firma zur Verfügung und müssen ihre eigenen Geräte nützen. Das bedeutet natürlich ein großes Sicherheitsrisiko.“ Denn, um überhaupt arbeiten zu können, werden zum Teil vertrauliche Betriebsdaten auf dem privaten Laptop gespeichert und nicht jeder denkt daran, diese Daten dann wieder richtig zu löschen. „Allein das Wissen darüber, dass ich zuhause einem größeren Sicherheitsrisiko ausgesetzt bin, wenn ich nicht die professionelle Infrastruktur wie in der Firma habe, stresst. Die Angst vor Hackerangriffen ist – nicht zuletzt durch Medienberichte – im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit gestiegen.“
Eine gute IT-Abteilung kann diesem Problem Einhalt gebieten und ist, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, Gold wert. Doch nicht jedes Unternehmen hat gut ausgebildete IT-Mitarbeiter*inenn, die sich um ein sicheres VPN oder Fernwartung kümmern können. Ein Ressourcenthema, das im vergangenen Jahr viele zu spüren bekommen haben.
Stressfaktor 4: Kein ergonomischer Arbeitsplatz #
Ein weiteres Stress-Phänomen, an das man bei digitalem Stress durch Homeoffice nicht gleich denken würde, sind ergonomische Probleme. Wer jedoch zuhause keinen geeigneten Arbeitsplatz hat und nun seine gesamte Arbeitszeit (und mehr) darin verbringt, spürt es vermutlich schon seit längerem. „Eine falsche Haltung beim Arbeiten kann nachweislich die Atmung, die Konzentration und die Produktivität negativ beeinflussen. Auch Stresshormone werden vermehrt ausgeschüttet, wenn Muskeln langfristig an- und schließlich verspannt sind. Fehlhaltungen darf man also nicht unterschätzen“, erklärt René Riedl.
Stressfaktor 5: Zoom Fatigue – ermüdende Videocalls #
Über dieses Phänomen haben wir bereits im Blog berichtet. Kurz zusammengefasst bezeichnet „Zoom Fatigue“ oder einfach Videokonferenz-Müdigkeit die höhere Erschöpfung nach Videocalls im Vergleich zu physischen Meetings. Dr. Riedl führt dazu derzeit eine große Studie mit der Universität Ulm durch, denn, so Riedl: „ Es ist ein Paradoxon: Wenn man nicht physisch beisammen sein kann, braucht man ein Kommunikationserlebnis, das möglichst nah an face to face herankommt. Es zeigt sich aber, dass all die Problemchen, die mit Videocalls einhergehen, dazu führen, dass es insgesamt stressiger ist als zum Beispiel klassisches Telefonieren.“
„Ein Problem ist die erhöhte Selbstwahrnehmung.“
Das liegt an mehreren Aspekten. „Ein Problem ist die erhöhte Selbstwahrnehmung, die wir in einem normalen Gespräch nie haben. Denn im Normalfall sieht man sich selbst während des Gesprächs.“
Das eigene Bild wegschalten
Das eigene Bild wegzuschalten oder mit einem anderen Fenster zu verdecken kann hier absolut sinnvoll sein, die meisten tun das aber nicht oder wissen nicht, wie das geht. Sieht man sich aber permanent selbst während des Gesprächs, so sind wir massiv abgelenkt. „Es gibt psychologische Studien, die belegen: Wenn sich ein Mensch selbst wahrnimmt, werden automatisierte Gesprächsabläufe unterbrochen. Immer wieder checkt man das eigene Bild: Passt das Licht, sitzt die Frisur? Das unterbricht den Kommunikationsflow und es ist sehr anstrengend fürs Gehirn, wieder in diesen Flow reinzukommen.“
Asynchronität belastet
Asynchronität und negative Emotionen sind weitere Aspekte, die die Zoom Fatigue begünstigen: „Wenn ich mich selbst dabei sehe, wie ich Kritik oder unangenehmes Feedback bekomme, wird die negative Emotion viel stärker wahrgenommen. Dazu kommt die fehlende Synchronität durch Netzwerke oder technische Instabilitäten. Schon ab etwa 300 bis 400 Millisekunden Verzögerung nehmen wir die Asynchronität wahr. Unser Gehirn ist aber die ganze Menschheitsgeschichte hindurch Synchronität gewöhnt und versucht daher permanent diesen Widerspruch aufzulösen. Das bemerken wir als die typische Abgeschlagenheit nach langen Videocalls.“
Fehlender Augenkontakt erschwert Kommunikation
Und auch der fehlende Augenkontakt ist ein Problem. „In echter Kommunikation regeln Augenkontakt und Mimik bzw. Körperhaltung und Signale, wer wann etwas sagt. Das gibts im Videocall nicht. Viele Besprechungen erfordern aber permanente Interaktion – da fällt man sich dann gegenseitig ins Wort oder sagt eben gar nichts, weil man keinen geeigneten Zeitpunkt erkennen kann. Das ist für ein Teamgefüge schlecht.“
Multitasking in Videocalls
Zu guter Letzt ist man in Videocalls sehr viel stärker in Versuchung, währenddessen noch etwas anderes zu tun. Wer hat nicht schon mal während eines Videomeetings E-Mails gecheckt oder parallel mit jemandem im Chat geschrieben? „Das passiert in Videocalls sehr viel öfter als in einer physischen Besprechung. Unser Gehirn ist aber nicht für Multitasking gemacht und kann sich nicht gleichzeitig auf zwei kognitive Aufgaben konzentrieren.“
Lösungsansätze gegen digitalen Stress im Homeoffice #
Insgesamt klingt es, als wäre Homeoffice sehr schlecht für unseren Körper und unsere Psyche. Dennoch wollen viele es nach Corona beibehalten oder auf eine hybride Arbeitsweise umsteigen. Denn, so paradox ist Homeoffice, manche Menschen empfinden seit Beginn der Coronakrise und dem Arbeiten von zuhause aus auch weniger Stress. Dass Homeoffice auch durchaus positive Effekte hat, bestätigt auch Prof. Riedl: „Wir verbringen weniger Zeit im Auto, was sich auch positiv auf die Umwelt auswirkt. Und man überlegt in Zukunft sicher dreimal, ob man für ein halbstündiges Meeting wirklich durchs halbe Land fahren muss, oder ob das nicht auch per Videocall geht. Wobei wir hier darauf achten müssen, nicht Opfer der Zoom Fatigue zu werden.“
Professionelle Ausstattung und klare Richtlinien #
Wer langfristig im Homeoffice arbeiten und dabei möglichst gesund und stressfrei bleiben will, braucht, so Riedl, erst mal die richtige Ausstattung: „Dazu brauche ich einen geeigneten Raum, Geräte und Infrastruktur. Das ist auch eine Frage der finanziellen Mittel. Im Homeoffice-Gesetz wird dazu schon einiges geregelt, aber es sind auch juristische Fragen offen. Immerhin gibt es gesetzliche Vorschriften, was die ergonomischen Anforderungen des Arbeitsplatzes angeht und ich bin unsicher, ob die im Homeoffice erfüllt werden können. Desweiteren empfehle ich klar definierte Arbeits- und Pausenzeiten und so wenig Multitasking wie möglich. Insgesamt rate ich aber – auch zugunsten der Unternehmenskultur – davon ab, ausschließlich im Homeoffice zu arbeiten.
Redaktion
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