Arbeits- und Freizeit abgrenzen: Braucht es ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit?
Nächtliche Nachrichten, E-Mails am Wochenende – das Corona-bedingte Homeoffice scheint die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit zu fördern. Im Europäischen Parlament wird daher ein „Recht auf Nicht-Erreichbarkeit“ besprochen. Doch braucht es in Wahrheit nicht etwas ganz anderes?
Frankreich, Belgien, Italien und Spanien: In diesen Ländern gibt es bereits ein Recht auf Unerreichbarkeit. Werden Arbeitnehmer*innen in ihrer Freizeit von Vorgesetzten oder Kollegen kontaktiert, müssen sie also nicht reagieren. Da unsere Arbeitswelt immer digitaler wird und damit die Gefahr des Work-Life-Blending wächst, arbeitet der Ausschuss des Europäischen Parlaments für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten derzeit an einer EU-Richtlinie für das Recht auf Nicht-Erreichbarkeit.
Doch ist eine gesetzliche Regelung wirklich das, was wir brauchen? Im Rahmen eines Clubhouse-Talks über "Employee Wellbeing" haben wir die Frage zur Diskussion gestellt - und möchten euch einige interessante Meinungen dazu nicht vorenthalten:
Nicht-Erreichbarkeit ist eine Frage der Unternehmenskultur #
Ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit soll Arbeitnehmer*innen davor schützen, sich in ihrer Freizeit dazu genötigt zu fühlen, auf Anrufe oder Nachrichten zu reagieren. Das ist eine löbliche Absicht, denn viel zu häufig kommt es vor, dass Mitarbeiter*innen in ihrer arbeitsfreien Zeit gestört werden, obwohl es sich nicht um einen Notfall handelt. Einfach nicht abheben oder erst am nächsten Tag antworten trauen sich die wenigsten – man will ja nicht für faul oder unsolidarisch gehalten werden ...
Damit stoßen wir auf den Kern des Problems – und das ist kein juristisches, sondern ein kulturelles. Dr. Bernadette Frech, CEO von Instahelp, einer Online-Plattform für psychologische Beratung, meint dazu: „Neue Regeln sind nicht der richtige Weg. Vielmehr müssen Unternehmen eine Kultur schaffen, die bei der Führungskraft startet. Wie gehe ich mit Erreichbarkeit, Abgrenzung und Pausen um? Die Vorbildwirkung ist entscheidend!“
Georg Konjovic, CEO von karriere.at, sieht das Thema auch eher in der Unternehmenskulturverortet: „Ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit braucht es gar nicht, wenn sie im Unternehmen gelebt wird – ganz oben bei der Geschäftsführung angefangen!“
Klare Regeln individuell vereinbaren #
Damit diese Unternehmenskultur entsprechend gelebt werden kann, braucht es sehr wohl klare Regeln – doch die sollten individuell vereinbart werden. Was bei der Diskussion um Work-Life-Balance beziehungsweise Work-Life-Blending nämlich häufig außer Acht gelassen wird, ist der Wunsch derjenigen, die es betrifft. Max Lammer, Experte für Employee Experience, meint dazu: „Was die Erreichbarkeit angeht, müssen Arbeitgeber sich fragen: Verstehe ich, was meine Leute wollen, und richte ich mich danach? Es bringt nichts, wenn wir etwas für jemanden festlegen, wenn wir nicht wissen, was für den anderen wichtig ist. Dazu braucht es ehrliches Interesse an den Wünschen und Bedürfnissen der Mitarbeiter*innen!“
Während die einen klar definierte Zeiten der Nicht-Erreichbarkeit präferieren, ist die Verschmelzung von Arbeits- und Freizeit für andere der Inbegriff von Selbstbestimmung und Flexibilität. Ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit müsste demnach genug Spielraum für individuelle Vereinbarungen lassen. Diese sind essenziell, um Missverständnisse zu vermeiden, wie Digital-Leadership-Expertin Katharina Thiel in unserem Podcast erklärt hat. Wenn Arbeitnehmer*innen am Wochenende E-Mails lesen oder spätabends auf Nachrichten antworten, liegt das nämlich zumeist an falsch interpretierten Erwartungen.
Auch Georg Konjovic pflichtet dem bei: „Man muss klar festlegen: Wann erwarte ich was? Ich habe mit den Mitarbeiter*innen, mit denen ich regelmäßig in Abstimmung bin, konkret vereinbart, wann ich Antworten auf E-Mails erwarte und wann nicht. Sie wissen, wenn ich ihnen am Freitagnachmittag ein Mail schreibe, dass sie erst am Montag antworten sollen. Dasselbe Verhalten erwarte ich mir auch von meinen Führungskräften. Die Grundregeln der Zusammenarbeit müssen klar kommuniziert und regelmäßig besprochen werden, damit sie nicht in Vergessenheit geraten.“
Fazit: Braucht es ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit? #
Jedem Mitarbeiter, jeder Mitarbeiterin stehen nach aktueller Gesetzeslage in Österreich grundsätzlich mindestens elf Stunden Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen und mindestens 36 Stunden durchgehende Ruhezeit am Wochenende zu – Ausnahmen müssen im Dienstvertrag vereinbart und entsprechend abgegolten werden. Wer auch nach Dienstschluss noch für Notfälle erreichbar sein muss, kann das im Rahmen einer Rufbereitschaft sein.
Rein rechtlich haben wir also bereits sehr klar definierte Regeln. Doch die schützen leider nicht vor Vorgesetzten, die die Privatsphäre ihrer Mitarbeiter*innen nicht respektieren, oder übereifrigen Kolleg*innen, die nicht auf den nächsten Arbeitstag warten wollen. Auch ein weiteres Gesetz würde daran vermutlich wenig ändern - wenngleich es ein positives Signal für eine gesündere Arbeitswelt sein kann.
Doch wie wir Arbeitszeit vereinbaren und wie sehr wir uns an Vereinbarungen halten, ist vielmehr eine Frage der Unternehmenskultur und der Kommunikation. Die können nur im Kleinen verbessert werden: angefangen bei der Geschäftsführung, über die Führungskräfte bis zu jedem und jeder einzelnen Mitarbeiter*in. Was dieses mögliche Gesetz aber sehr wohl ändert, ist die Sichtbarkeit des Themas in der Öffentlichkeit. Es führt dazu, dass wir mehr darüber sprechen, wie wir gut und kollegial zusammenarbeiten können. Und darauf kommts an. Wir wollen daher auch eure Meinung wissen: Möchtet ihr weniger oft für Vorgesetzte und Kollegen erreichbar sein? Hinterlasst uns ein Kommentar im Blog.
Bildnachweis: shutterstock/Medvid.com
Redaktion
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