Mentale Gesundheit am Arbeitsplatz: Tipps für die Praxis
Damit Mitarbeiter*innen langfristig den Belastungen im Arbeitsalltag standhalten und produktiv sein können, braucht es ein tieferes Verständnis für das Thema mentale Gesundheit am Arbeitsplatz. Eva Wiesmüller-Schandalik, Arbeits-und Organisationspsychologin , verrät im Interview, wie Führungskräfte die Zeichen richtig deuten und Mitarbeiter*innen unterstützen können.
Was mentale Gesundheit mit Unternehmenserfolg zu tun hat #
Welche Bedeutung hat mentale Gesundheit am Arbeitsplatz und welche Rolle spielt sie deiner Meinung nach für das Wohlbefinden der Mitarbeitenden und den Unternehmenserfolg?
Eva Wiesmüller-Schandalik: Internationale Studien legen nahe, dass in Europa 50 bis 60 Prozent der krankheitsbedingten Arbeitsausfälle in der einen oder anderen Form auf Arbeitsstress zurückzuführen sind. Etwa 28 Prozent der Arbeitskräfte in der EU sind mit Stress in der Arbeitswelt konfrontiert.
Diese Belastungen beeinträchtigen nicht nur die Lebensqualität sondern auch die Arbeitsleistung. Die gesamtwirtschaftlichen Kosten, die sich daraus ergeben, belaufen sich je nach Schätzungen auf 1,5 bis 4 Prozent des BIP, je nachdem ob neben den direkten medizinischen und betrieblichen Kosten auch noch eine Bewertung des Verlusts an Wertschöpfung und der Einschränkung der Produktivität vorgenommen wird.
Wie können Arbeitgeber Stress reduzieren? #
Welche Herausforderungen und Stressfaktoren beeinflussen heutzutage die mentale Gesundheit der Arbeitnehmer*innen und wie können Unternehmen diesen begegnen?
Wiesmüller-Schandalik: Die grundlegenden Veränderungen der Arbeitswelt wirken sich unmittelbar auf die Arbeitsbedingungen aus: Zunehmender Wettbewerb, Flexibilisierung und Einkommensunsicherheit führen zu erhöhter Arbeitsintensität, steigender Verantwortung, mehr Zeitdruck und damit verbunden zu mehr Stress.
Arbeitsbedingungen stehen in einem direkten Zusammenhang mit der individuellen Gesundheit. Ein bahnbrechendes Erklärungsmodell dazu stellt das sogenannte Anforderungs‐Kontroll‐Modell (nach Robert Karasek und Töres Theorell) dar. Demnach entsteht Stress mit seinen negativen Auswirkungen auf die Gesundheit (Herz‐Kreislauf‐Beschwerden, psychischen Erkrankungen oder auch Erkrankungen des Bewegungsapparats) dann, wenn eine Arbeitssituation von hohen Anforderungen (wie z.B. Zeitdruck oder Hektik) plus niedrigem Gestaltungsspielraum geprägt ist.
„In Europa sind 50 bis 60 Prozent der krankheitsbedingten Arbeitsausfälle in der einen oder anderen Form auf Arbeitsstress zurückzuführen.“
Der zunehmende Stress hängt aber auch mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammen: Mehrfachbelastungen durch Beruf und Familie, Schwächung (familiärer) sozialer Unterstützungsnetzwerke, Zunahme prekärer, unsicherer Arbeitsverhältnisse etc.
Somit können Unternehmen in genau diesen arbeitspsychologischen Themenbereichen Ansätze in der Verhältnisprävention initiieren, welche die Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeitenden positiv und gesundheitsförderlich beeinflussen:
- keine Dauerereichbarkeit trotz flexibler Arbeitszeitgestaltung
- Bewusstsein für erhöhte Arbeitsintensität und steigenden Zeitdruck
- Erhöhung des Handlungsspielraums und Wertschätzung
- Einbezug von Familie und Beruf (Mehrbelastungen)
7 Warnzeichen bei Mitarbeitenden #
Gibt es konkrete Warnsignale bei Mitarbeitenden, bei denen Führungskräfte die Ohren spitzen sollten?
Wiesmüller-Schandalik: Die Erkennung von psychischen Belastungen bei Mitarbeiter*innen erfordert Sensibilität, Aufmerksamkeit und eine proaktive Herangehensweise seitens der Führungskräfte. Hier sind einige Möglichkeiten, wie Führungskräfte psychische Belastungen erkennen können:
- Veränderungen im Verhalten
- Höhere Fehleranfälligkeit
- Übermäßige Fehlzeiten, häufige Pausen
- Stimmungs- und Verhaltensveränderungen
- Kommunikationsveränderungen
- Änderungen im Erscheinungsbild und der Körpersprache
- Feedback von Kolleg*innen
Was hilft?
- Regelmäßige Gespräche
- Einfühlsames Zuhören
- Betriebliches Gesundheitsmanagement: Unterstützung z.B. durch EAP (Employee Assistance Programme).
- Schulungen für Führungskräfte
- Ergonomie und Arbeitsbedingungen
Es ist wichtig zu beachten, dass die genannten Anzeichen nicht notwendigerweise auf psychische Belastungen hinweisen müssen, aber sie können als Indikatoren dienen, um genauer nachzufragen und gegebenenfalls Unterstützung anzubieten. Sensibles und einfühlsames Vorgehen ist entscheidend, um eine offene Kommunikation zu fördern und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden zu unterstützen.
Ebenfalls ist zu betonen, dass Führungskräfte keine professionellen Therapeut*innen sind. Wenn ernsthafte Belastungen festgestellt werden, sollten die Mitarbeiter*innen ermutigt werden, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Maßnahmen gegen Stress und Burnout #
Welche konkreten Präventionsmaßnahmen empfiehlst du, um Stress und Burnout am Arbeitsplatz vorzubeugen und zu bewältigen?
Wiesmüller-Schandalik: Die Prävention von Stress und Burnout am Arbeitsplatz erfordert eine ganzheitliche Herangehensweise. Hier sind konkrete Präventionsmaßnahmen, die Unternehmen implementieren können – idealerweise in Kombination.
Organisatorische Maßnahmen:
- Arbeitsbelastung managen
- Klare Kommunikation und Erwartungen
- Flexibilität bei Arbeitszeiten
- Pausen und Erholungszeiten
- Karrieremöglichkeiten und Weiterbildung
- Soziale Unterstützung (Teamkultur, Austauschmöglichkeiten)
- Gesundheitsfördernde Arbeitsumgebung
Individuelle Maßnahmen:
- Stressbewältigungstrainings
- Gesundheitschecks
- Klare Aufgabenverteilung
- Selbstmanagement fördern
- Arbeitsplatzfeedback und Entwicklungsgespräche
- Psychologische Unterstützung: Mitarbeiter*innenunterstützungsprogramme (EAP) oder Zugang zu professioneller psychologischer Unterstützung
Mentale Gesundheit in Klein- und Mittelunternehmen #
Wie können kleine und mittelständische Unternehmen mit begrenzten Ressourcen effektive Programme zur Förderung der mentalen Gesundheit implementieren?
Wiesmüller-Schandalik: Auch mit begrenzten Ressourcen ist es möglich, Mitarbeiter*innen zu unterstützen. Hier ein paar Beispiele:
- Bewusstsein schärfen: Führe Schulungen und Sensibilisierungsprogramme durch, um das Bewusstsein für psychische Gesundheit zu schärfen.
- Flexible Arbeitsbedingungen: Erwäge die Implementierung flexibler Arbeitszeiten, Telearbeit oder alternativer Arbeitsmodelle. Dies ermöglicht es Mitarbeiter*innen, besser mit persönlichen Herausforderungen umzugehen.
- Regelmäßige Kommunikation: Schaffe einen offenen Kommunikationskanal zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften.
- Work-Life-Balance fördern: Ermutige Mitarbeitende, Pausen zu nehmen und Urlaub zu nutzen, um sich zu erholen.
- Gesundheitsfördernde Aktivitäten: Organisiere kostengünstige gesundheitsfördernde Aktivitäten wie gemeinsame Sportveranstaltungen oder Gruppenaktivitäten.
- Stressmanagement verbessern: Integriere einfach umsetzbare Stressmanagement-Techniken in den Arbeitsalltag, wie zum Beispiel kurze Pausen, Atemübungen oder Achtsamkeitsübungen.
- Gesundheitsfördernde Arbeitsumgebung: Schaffe eine positive Arbeitsumgebung, die Sicherheit, Anerkennung und Zusammenarbeit fördert.
- Netzwerke für den Erfahrungsaustausch: Ermutige Mitarbeitende, sich in informellen Gruppen oder Netzwerken auszutauschen, um soziale Unterstützung zu fördern.
Über Eva Wiesmüller-Schandalik #
Mag. Eva Wiesmüller-Schandalik ist Arbeits- und Organisationspsychologin bei Mavie Work. Ihre Expertise umfasst die Beratung und Konzeptionierung betrieblicher Projekte zur Personalentwicklung, Gesundheitsförderung und Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz. Darüber hinaus arbeitet sie als psychologische Beraterin, Mentaltrainerin und systemischer Coach.
Bianca Schedlberger
Content Managerin
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