Pflege in Österreich: Es wird eng
Keine andere Berufsgruppe kam während der Corona-Pandemie so oft zum Handkuss wie die der Gesundheits- und Pflegeberufe. Die mediale Aufmerksamkeit und die Anerkennung vonseiten der Bevölkerung waren groß. Geändert hat das aber nichts an den großen Defiziten, die in der Pflege herrschen.
2019 waren laut der Pflegepersonal-Bedarfsprognose des Sozialministeriums etwa 127.000 Menschen im Pflegebereich tätig. 67.000 im Krankenhaus, 60.000 in der Langzeitpflege.
Die Hälfte der Kranken- und Pflegekräfte will wechseln #
Österreich steckt in einer akuten Notsituation, was den Kranken- und Pflegebereich anbelangt. Im März und April 2021 fand inmitten der dritten Welle der Corona-Pandemie eine Befragung im Krankenhausbereich statt. Wie der ORF berichtete, zieht laut einer Studie des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV) fast die Hälfte der dort Beschäftigten immer wieder einen Berufsausstieg in Erwägung. In absoluten Zahlen entspricht das 27.700 Pflegekräften. Das hat zum einen mit einer zu geringen Entlohnung zu tun (55 Prozent geben das als Grund an), aber auch mit Belastungen aufgrund von Personalmangel und dem Wunsch nach einer besseren Work-Life-Balance.
Arbeitsbedingungen stark mangelhaft #
86 Prozent gaben an, dass sich die Arbeitssituation durch das Coronavirus sehr stark oder stark verschlechtert hat. Psychische Belastungen wie Stress, Ängste, Sorgen und Schlaflosigkeit nehmen ebenfalls zu – 85 Prozent der Befragten leiden daran. Etwa die Hälfte von ihnen klagt zudem über körperliche Beeinträchtigungen wie Erschöpfungszustände oder Schmerzen. Als größte Belastung wurden ein erhöhter organisatorischer Aufwand, das lange Tragen von Schutzausrüstung, Personalmangel sowie unabsehbare Perspektive in der Pandemie genannt.
Da es nicht genügend Arbeitskräfte gibt, müssen die Arbeitnehmer*innen im Gesundheitsbereich regelmäßig mehr Stunden leisten als vereinbart. Die Verschlechterung der Qualität der Pflege geht mit diesem konstanten Zeitdruck einher. Gerade im Pflegebereich muss das für die Patient*innen so wichtige Kümmern und Beschäftigen auf ein Minimum reduziert werden, weil sich die Aufgaben sonst nicht stemmen lassen. Laut Arbeitsklima-Index der AK Oberösterreich aus dem Februar 2020 glauben sechs von zehn Personen in diesem Beruf nicht daran, bis zur Pensionierung durchzuhalten.
Immer mehr Pflegekräfte leiden an Depressionen #
Eine aktuelle Studie der Uni Innsbruck zeigt: Der Ärger aufs System nimmt unter den Pflegekräften zu. Die Befragten gaben an, dünnhäutiger zu sein und darauf achten zu müssen, die professionelle Distanz nicht zu verlieren. Auch Depressionen nehmen zu: Die Depressionsprävalenz (Rate der in der Pandemie mit Depressionen Kämpfenden) liegt bei Spitalsarbeiter*innen bei 47 Prozent, bei Einsatzkräften im Rettungsdienst bei 40 Prozent.
Der Ausstiegswunsch wird weiters durch Gewalt vonseiten der Patient*innen bekräftigt. So gaben 60 Prozent an, verbale Gewalt (Beleidigung, Beschimpfung, Drohung) erfahren zu haben. 17 Prozent waren sogar von körperlicher Gewalt betroffen (Schläge, Tritte, Bisse). Auch mangelnder Respekt und fehlende Wertschätzung drücken die Stimmung.
Neue Mitarbeiter*innen zunehmend schwieriger zu finden #
Das Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft (ibw) hat 2020 unter anderem erhoben, welche Branchen am stärksten vom Fachkräftemangel betroffen sind. 58 Prozent der Arbeitgeber*innen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen haben demnach sehr stark oder eher stark mit diesem Problem zu kämpfen.
Im Rahmen des 2. karriere.at Arbeitsmarktreports wurden insgesamt mehr als 270.000 karriere.at Stellenanzeigen aus dem zweiten Halbjahr 2021 analysiert (davon mehr als 11.600 aus der Branche Pharma/Gesundheit/Soziales). Obwohl karriere.at einen Schwerpunkt auf kaufmännisch-technische Berufe im Fach- und Führungsbereich hat, ist die Anzahl der ausgeschriebenen Stellen im Bereich Pharma/Gesundheit/Soziales in den vergangenen zwei Jahren enorm angestiegen:
„Die Anzahl der Jobs aus dem Gesundheits- und Sozialbereich ist auf karriere.at seit der Pandemie signifikant gewachsen.“
Im Hinblick auf jene Ausschreibungen, die dem Gesundheits- und Pflegebereich zugeschrieben werden können, zeigt sich, dass vorwiegend Personal mit ausreichend Praxiserfahrung gesucht wird (betrifft mehr als 80 Prozent der ausgeschriebenen Stellen). Der Hauptfokus liegt den Auswertungen zufolge außerdem auf Vollzeitstellen. In der Volltextanalyse der Stelleninserate schafft es „Teilzeit“ in der Branche Pharma/Gesundheit/Soziales nicht unter die Top 30, obwohl sich viele Arbeitnehmer*innen in diesem Bereich diese Möglichkeit wünschen.
Auch das Thema Homeoffice ist im Gesundheits- und Sozialbereich kaum ein Thema (nur 8 Prozent der Stelleninserate der Branchen bieten dieses an) da viele Stellen an Orte gebunden sind oder physische Nähe voraussetzen. Dennoch hat die Pandemie hier positive Veränderungen angestoßen: Der Wert an Homeoffice-Möglichkeiten in diesen Berufsfeldern hat sich seit 2019 beinahe verdreifacht.
Es fehlt an 76.000 Arbeitskräften #
Ein weiterer, beunruhigender Faktor: 30 Prozent der aktuell Beschäftigten sind bereits älter als 50 Jahre. Zudem wird immer weniger private, unbezahlte Pflegearbeit durch Angehörige geleistet, weil die Familien kleiner werden und Frauen neben ihrer Erwerbstätigkeit keine Zeit mehr dafür haben. Care Arbeit ist, wie wir wissen, leider immer noch primär Frauenarbeit. Der Bedarf an Pflegekräften nimmt außerdem zu, da unsere Gesellschaft kontinuierlich älter wird. Wird dem Pflegenotstand nichts entgegengesetzt, fehlen bereits im Jahr 2030 76.000 zusätzliche Arbeitskräfte in diesem Bereich.
Übrigens: Auf die Frage, warum ein derart wichtiger Beruf so gering bezahlt wird, antwortete Arbeitsminister Martin Kocher in der „ZiB 2“ bei seinem Antrittsinterview, dass sich Berufsgruppen nach Angebot und Nachfrage richten würden. Wenn dem so wäre, müssten Menschen, die in der Gesundheitsbranche tätig sind, eigentlich zu den Spitzenverdiener*innen zählen. Trotzdem verdienen beispielsweise Pflegeassistent*innen zu Beginn gerade einmal zwischen € 1.450 und € 2.190 brutto.
Ist die Pflegelehre wirklich der Ausweg? #
Seit 2021 ist es in Österreich möglich, eine Pflegeausbildung zu absolvieren. Schon ab 15 Jahren können junge Menschen damit beginnen. Doch Arbeitnehmervertreter*innen und Arbeitnehmer*innen selbst sehen dieses Konzept eher kritisch. Die Wiener Gesundheitssprecherin Birgit Meinhard-Schiebel warf im Arbeit&Wirtschaft Magazin die Frage auf, ob es im Sinne junger Menschen ist, sie mit einer Realität zu konfrontieren, die selbst Erwachsenen oft einiges an psychischer Widerstandsfähigkeit abverlangt. Themen wie Demenz, Tod oder Schmerz übersteigen häufig die Reife junger Menschen. So ist etwa die Auseinandersetzung mit chronischen Wunden durch längeres Liegen oder Inkontinenz nichts für schwache Nerven.
Aufgrund europarechtlicher Bestimmungen ist es zudem erst ab 17 Jahren möglich, direkt am Patienten zu arbeiten. Dadurch geht das Prinzip des dualen Lernsystems verloren. Pflegende selbst sprechen sich einer AK-Umfrage zufolge vehement gegen eine praktische Pflegeausbildung vor dem 17. Lebensjahr aus. Angehörige sind mit diesem System auch nicht immer einverstanden, denn sie möchten, dass pflegebedürftige Menschen von Profis betreut werden.
Die Schweiz machts vor #
In einem Volksentscheid in November 2021 sprachen sich 61 Prozent der Schweizer*innen für eine Pflegeinitiative aus. Dadurch wird die Regierung dazu verpflichtet, die Arbeitsbedingungen, Löhne und Ausbildung in der Pflege zu verbessern. In weiterer Folge soll der Pflegeberuf als wichtiger Bestandteil der Gesundheitsversorgung in der Verfassung verankert werden. Der Schweizer Bundesrat hat 18 Monate Zeit, um diese Pläne in die Tat umzusetzen.
Auch in Österreich wäre es endlich an der Zeit, den Beschäftigten in der Pflege- und Gesundheitsbranche mit verbesserten Arbeitsbedingungen entgegenzukommen und ihre für die Gesellschaft so wichtige Leistung gerecht zu entlohnen.
Der karriere.at Arbeitsmarktreport: Schwerpunkt Pharma/Gesundheit/Soziales #
Im 2. Arbeitsmarktreport steht der Bereich Pharma/Gesundheit/Soziales im Fokus. Wir werfen darin unter anderem einen genaueren Blick auf die Nachfrage und Anforderungen an medizinisches Personal, Sozialpädagog*innen und andere Fachkräfte aus dem Sektor Gesundheit und Soziales. Hier gehts zum kostenlosen Download:
Bildnachweis: karriere.at
Bianca Schedlberger
Content Managerin
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